Reifenabrieb: Das unterschätzte Risiko
Was harmlos klingt, ist in Wirklichkeit die grösste Einzelquelle für Mikroplastikemissionen weltweit.

Reifenabriebpartikel (RAP) sind winzige Fragmente, die sich kontinuierlich von Fahrzeugreifen lösen. Dieser Prozess geschieht nicht nur beim Beschleunigen und Bremsen, sondern auch bei konstanter Geschwindigkeit, wenn auch in geringerem Ausmass.
Diese Partikel entstehen primär durch mechanischen Abrieb zwischen Reifen und Fahrbahn. Das dabei entstehende Material ist selten reines Reifenmaterial:
Es handelt sich um eine komplexe Mischung aus Reifen, abgeriebenem Fahrbahnmaterial und Umweltpartikeln wie Sand. Diese Mischung wird als Reifen- und Strassenabriebpartikel (TRWP) bezeichnet. Die Partikel variieren erheblich in ihrer Grösse, von sichtbaren Gummistücken bis zu ultrafeinen Partikeln unter 100 Nanometern.
Die unterschätzte Mikroplastikquelle
Reifenabrieb gilt als die grösste Einzelquelle für Mikroplastikemissionen weltweit. Allein in Europa werden jährlich etwa 500'000 Tonnen Mikroplastik aus Reifenabrieb freigesetzt.

Global gesehen werden jährlich rund 6.1 Millionen Tonnen Reifenpartikel freigesetzt. Studien zeigen, dass RAP etwa 85 % des in Gewässern gefundenen Mikroplastiks ausmachen. Dieser hohe Anteil erfordert eine Neupriorisierung der Umweltbelange.
Die öffentliche und politische Aufmerksamkeit, die oft auf Plastikverpackungen abzielt, muss sich verstärkt auf diese weniger sichtbare, aber wirkungsvollere Quelle verlagern.
Eigenschaften und Zusammensetzung
Reifen sind hochkomplexe Produkte aus einer Vielzahl von Materialien, darunter Natur- und Synthesekautschuk, Schwefel, Zinkoxid, Russ und Öle. Insgesamt können sie über 400 verschiedene Chemikalien enthalten, von denen viele als krebserregend gelten.
Zu den wichtigsten toxischen Substanzen gehört 6PPD, ein Antioxidans, das sich in der Umwelt zu hochgiftigem 6PPD-Chinon (6PPD-q) umwandelt. Diese Verbindung wird mit Massensterben von Coho-Lachsen in Verbindung gebracht und wurde sogar im Urin von Menschen nachgewiesen.

Weitere giftige Bestandteile sind polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) und Schwermetalle wie Kupfer, Blei, Cadmium und Zink. Die genaue chemische Zusammensetzung der Reifen wird von der Industrie oft vertraulich behandelt, was eine umfassende Risikobewertung erschwert. Diese mangelnde Transparenz behindert seit Jahren die Entwicklung sichererer Alternativen und effektiver Regulierungen.
Einflussfaktoren und Umweltauswirkungen
Reifenabriebpartikel gelangen über atmosphärische Dispersion und Oberflächenabfluss in die Umwelt. Sie wurden sogar im Eis der Arktis und in Wüsten gefunden, was ihre globale Verteilung belegt.
Die Rate des Reifenabriebs wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, darunter Fahrzeugtyp und -gewicht. Schwerere Fahrzeuge, wie Elektrofahrzeuge, verursachen aufgrund des Batteriegewichts und höherer Anfahrtsmomente mehr Reifenabrieb. Eine aggressive Fahrweise mit starkem Beschleunigen und abruptem Bremsen erhöht den Verschleiss erheblich.

Auch das Reifendesign und die Materialzusammensetzung spielen eine Rolle; neue Reifentypen mit optimierten Gummimischungen sollen den Abrieb minimieren.
Gesundheitsrisiken und Lösungsansätze
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Reifenabriebpartikeln auf den Menschen sind ein wachsendes Anliegen. Ultrafeine Partikel können leicht in die Lunge und den Blutkreislauf gelangen und sind mit erhöhter Sterblichkeit und Morbidität verbunden.
Studien zeigen, dass diese Nanopartikel bei schwangeren Frauen sogar den Fötus erreichen können. Die Exposition gegenüber Feinstaubpartikeln, einschliesslich solcher aus Reifenabrieb, kann Herz-, Lungen-, Entwicklungs-, Reproduktions- und Krebserkrankungen verursachen.
Die Reduzierung des Reifenabriebs erfordert einen vielschichtigen Ansatz. Innovationen in der Reifentechnologie, wie langlebigere Materialien und neue Designs wie luftlose Reifen, sind entscheidend.
Fahrzeug-integrierte Lösungen, darunter Partikelfilter, die Bremsstaub und Reifenabrieb auffangen, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Auch das Fahrwerksdesign kann den Reifenverschleiss optimieren.
Infrastruktur
Infrastrukturmassnahmen wie Fahrbahnen aus gummimodifiziertem Asphalt können den Abrieb reduzieren. Grüne Infrastruktur, wie Bioswales, hilft zudem, Schadstoffe aus dem Regenwasserabfluss zu filtern.
Schliesslich sind Verhaltensänderungen und öffentliches Bewusstsein unerlässlich. Eine defensive Fahrweise und regelmässige Reifendruckkontrolle reduzieren den Abrieb.
Die Förderung einer Mobilitätswende und die Nutzung kleinerer, leichterer Fahrzeuge sind ebenfalls wirksame Massnahmen. Eine bessere Aufklärung der Verbraucher, zum Beispiel durch Reifenlabel, kann zu informierten Kaufentscheidungen führen.